Von Mitte April bis Anfang Juni 2017 war Georg im Model Hostel Welcommon für den Computerraum zuständig. Er brachte reiche Erfahrungen aus anderen Ländern mit, in denen er gelebt und gearbeitet hat. Seit einigen Jahren wohnt er in Oranienburg/ Brandenburg.
Georg schreibt (Anfang Juni 2017):
Meine Erfahrungen im Computerraum des Hostels Welcommon
Im WELCOMMON gibt es keine negativen Sanktionsmöglichkeiten. Ich kann die Kinder nicht bestrafen, weil sie keine Angst davor haben und weil ihre Eltern ihnen im Konfliktfall den Rücken stärken. Sie sind alles Straßenkatzen und -kater mit neun Leben und mehr überlebten Krisen als die meisten von uns im ganzen Leben zu sehen bekommen. Sie sind nicht wohlerzogen aber extrem überlebensfähig. Gute Manieren und Höflichkeit waren in ihrem bisherigen Leben wenig gefragt und selten erfolgreich. Was aber geht ist sie positiv zu sanktionieren. Dazu bracht es etwas was sie mögen und was sie nur dann bekommen wenn sie „nicht nerven“. Sie sind es gewohnt durch ausdauerndes Drangsalieren und Schikanieren zum Erfolg zu kommen und verhalten sich entsprechend. Solange ihnen das gelingt, werden sie sich keine anderen Verhaltensweisen aneignen. Warum auch? Das gilt für Jungs in höherem Maß als für Mädchen.
Dieses Verhaltensmuster zu durchbrechen dauert und ist nur möglich, wenn ich etwas zur Verfügung habe, das sie wollen/mögen. In meinem Fall waren das Computer. Sie sollen damit Sprachen lernen. Was sie wollen ist spielen. Um das zu dürfen, ändern sie ihr Verhalten solange, bis sie es dürfen. Es hat am Anfang keinen Sinn, sich auf Diskussionen einzulassen, weil es sowieso keine gemeinsame Sprache und seitens der Kinder auch kein Streben nach Verständigung gibt. Worte dienen ihnen einzig und allein dazu, ihren Willen durchzusetzen. Sie verstehen nicht was ich sage, aber sie verstehen sehr gut, was ich tue. Es ist daher wichtig, durch konsequentes Eigenverhalten bestimmte Dinge durchzusetzen.
Nach etwa vier Wochen fingen die ersten Kinder an beim Gehen, ihre Stühle zurecht zu rücken, Kopfhörer ordentlich hinzulegen und den Computer korrekt herunter zu fahren. Sie können ihre Kooperationswilligkeit sehr gut durch Tun zeigen. Es hat geholfen, dass ich den Computer Raum einmal pro Woche sauber gemacht habe. So wenig wie sie auf das hören, was ich sage, so sehr orientieren sie sich an dem, was ich tue.
Georg schreibt (Mitte Juli 2017):
Umarmungen in Athen
Immer wieder frage ich, ob das, was ich tue, irgendjemandem wirklich hilft. Auf der Suche nach der Antwort helfen mir keine Statistiken und kein Zuspruch. In einem religiösen Film ist das die Stelle, wo sich der Hauptdarsteller Hände ringend gen Himmel wendet und aus der Tiefe seines Herzens fordert: „Gib mir ein Zeichen! gib mir ein Zeichen!“
Eines schönen Tages, an einem Tag wie jeder andere, hörte ich im WELCOMMON das nicht aufhörende und nicht schwächer werdende herzzerreißende Geschrei eines Kindes. Es schrie wie am Spieß, unaufhörlich, Minute nach Minute. Ich war im Computer Raum und ging immer wieder zur Tür, öffnete das kleine Fenster und versuchte zu ergründen, was vor sich ging.
Ein paar Tage später war plötzlich wieder dieses Schreien da, genau das gleiche. Ich war wieder im Computer Raum, hatte gerade wenig zu tun und ging nach unten in die Lobby, zur Quelle des Schreiens. Die Anwesenden standen ratlos da. Es ist so eine Sache mit dem Einmischen. Wenn jemand anders bereits etwas tut, mische ich mich prinzipiell nicht ein. Hier tat niemand etwas. Ein etwa 6-jähriger Junge lag auf dem Boden. Er schlug und trat laut schreiend mit aller Macht um sich. Ich hob ihn auf. Weil er unvermindert um sich zu schlagen und treten suchte, umschlang ich ihn mit meinen Armen und drückte ihn fest an mich. Er beruhigte sich kein bisschen, seine Anstrengungen ließen nicht nach und er schrie weiter.
Seine beiden Brüder, etwa 13 und 14, standen daneben und ich deutete nach einer Weile mit dem Kopf zum Fahrstuhl. Der ältere öffnete die Tür und wir gingen hinein. Nichts änderte sich und wir fuhren die vier Stockwerke langsam nach oben, wo das Zimmer der Familie ist. Ganz allmählich ließ die Spannung in dem Jungen ein bisschen nach. Als wir an der Tür ankamen, dauerte es einige Zeit, bis sie geöffnet wurde. Der Junge schrie immer noch und wand sich in meinem Griff. Ich hielt in weiter fest, bis der Vater an die Tür kam, und sagte dann, wohl wissend, dass er mich nicht verstehen würde: „It’s o.k., everything o.k.! No need to beat him! Don’t beat him!“
Ich ließ den Jungen ganz langsam runter. Er hatte aufgehört zu schreien und sich gegen etwas zu wehren, was keiner von uns sehen konnte. Der Vater gab ihm eine Ohrfeige und ich ging schnell, weil der Junge je mehr Ohrfeigen bekommen hätte, je länger ich da stand.
Ein paar Tage später war wieder ein großes Geschrei in der Lobby. Diesmal zwischen Erwachsenen, nicht so herzzerreißend, aber ebenso laut und andauernd. Einem war ein Unrecht geschehen und er wollte sich nicht beruhigen lassen, ging immer wieder auf den anderen los. Der ältere Bruder des Jungen war da. Er ging auf den Schreienden zu und redete beruhigend auf ihn, den Erwachsenen ein, zog dessen Arme so lange herunter, bis er nachgab, und umarmte ihn dann. Ich hatte mein Zeichen bekommen.